2021 | Glaube in Zeiten der Unsicherheit

Glaube.

Ich glaube nicht an Gott. Nicht mehr.

Aufgewachsen bin ich mit dem Bild eines alten Mannes, der alles kann – nichts muss. Weihnachten in die Kirche oder auf einen Pflichtspaziergang, vorher gibt es keine Geschenke. An vielmehr christliche Rituale in der Familie kann ich mich nicht erinnern.

Ursprünglich wollten unsere Eltern uns Kinder selbst entscheiden lassen, ob und wann wir einer Kirche beitreten möchten. Das änderte sich, als unsere Mutter krank wurde. 

Also stehen mein Bruder und ich Anfang der neunziger Jahre am Taufbecken unserer Gemeindekirche, flankiert von Eltern und Paten mit riesigen Kerzen in den Händen und grinsen um die Wette.

Vorab wurden wir gefragt, ob wir das möchten – getauft werden.

Warum, sollten wir?
Weil ihr dann konfirmiert werden könnt!
Und wofür?
Ihr seid dann Teil der evangelischen Kirchengemeinde!
Und was bringt uns das?
Es gibt Geschenke und wir feiern ein Fest!
Yeahi!

Irgendwie fühle ich mich heute noch auf ’s Kreuz gelegt. 

Auf dem nächsten Foto sind Papa und ich allein. 1993. Schick gekleidet. Er legt stolz den Arm um mich. Mein Mund lächelt mit verlorenen Augen.

Sprüche 3, Vers 5-6, zu meiner feierlichen Segenshandlung:

„Verlass dich auf den HERRN von ganzem Herzen, und verlass dich nicht auf deinen Verstand, sondern gedenke an ihn in allen deinen Wegen, so wird er dich recht führen.“ 

Bibel

Meine Mutter hinterließ Jahre zuvor folgendes Sprichwort in meinem Poesiealbum:

Der Mensch hat dreierlei Methoden klug zu handeln – durch Nachdenken, das ist das Edelste, durch Nachahmung, das ist das Leichteste, durch Erfahrung, das ist das Bitterste. 

Mein Vater schrieb mir ein Zitat von Erich Kästner hinein:

„Was auch immer geschieht, nie sollst du so tief sinken, von dem Kakao, durch den man dich zieht auch noch zu trinken.“

Unsicherheit.

Im Jahr meiner Konfirmation fand der evangelische Kirchentag in München statt. Mein Vater wollte seine Mutter besuchen und mich auf dem Rückweg wieder einsammeln.

Die Straßen waren voller Musikanten und herzlicher Menschen. Bei einer Veranstaltung im Stadion wurden Stofffetzen verteilt, verknotet und von hunderten Menschen in Wellenbewegungen hochgerissen. Ich hätte das stundenlang machen können. Ich war Teil der Masse, einer Gemeinschaft. Einen viel zu kurzen Moment lang, ein beruhigendes, berauschendes Gefühl.

In der Jugendherberge folgte die Ernüchterung. Die Begeisterung für Gott und Jesus konnte ich nicht einfach teilen und an keinen Plan Gottes und mein Schicksal in seinen Händen glauben. Alles sollte eine Prüfung sein? Meine Mutter war tot. Ende.

Am vereinbarten Treffpunkt suchte ich meinen Vater. Er kam nicht aufs Gleis. Ich fand ihn vor Weizen und Weinbrand in der Bahnhofskneipe. Am Auto beobachtete ich im Rückspiegel, wie er versuchte heimlich aus einer Flasche zu trinken und machte ihm Vorwürfe. Ob er un-heimlich trinken solle, fragte er mich. Und lachte. Die Heimfahrt war das Unheimlichste überhaupt.

Als es mir mit Mitte Zwanzig besonders dreckig ging, weil ich dachte, all mein Unglück sei mit dem Tod meiner Eltern begründet genug, nahm ich psychoanalytische Hilfe in Anspruch. In einer Sitzung behauptete sie, ich könne zwar aus der Kirche austreten, aber nicht aus meiner christlichen Sozialisation.

Das stimmt: Ich weiß nämlich nichts über das Verhalten in einem hinduistischem Tempel oder wie es sich anfühlt als Jude in Deutschland zu leben und kann nicht nachempfinden, wie eine Frau mit der religiös begründeten Beschneidung ihrer Tochter umgeht. 

Glaube wird gelebt und kultiviert, sonst geht er eben kaputt und wird durch eine Ernährungsweise, Karriere oder gefährliches Vakuum ersetzt.

Meinen Glauben an Gott habe ich verloren. Er ist mitgestorben. Vielleicht weil meine Eltern selbst zu viele Zweifel an der Institution Kirche hinterlassen und wir zu wenig gemeinsame Zeit hatten, um herauszufinden, was Glaube bedeutet, wenn uns nicht gerade wegen ‚Es ist ein Ros entsprungen‘ vor lauter Gähnen Tränen aus den Augen schießen oder eine heilige Tanne im Wohnzimmer auf uns wartet.

Es gibt diese Momente im Leben, die wir alle unabhängig von Alter, Geschlecht, Religion und Nationalität erfahren können: allein mit dem Sonnenaufgang, Gewitter mit Platzregen, Donner und Blitz, am Meer den Wellen lauschen, die Füsse graben im feinen Sand, Feuer, Lachen. Eine Blüte in ihren Einzelheiten bestaunen. Sonnenstrahlen, die durch das grüne Laub schimmernd den Waldboden berühren. Einen Berg im Rücken in den Nachthimmel schauen.

Und viele Milliarden Momente mehr.

Wir werden geboren, leben und sterben.

Alles daran und dazwischen ist voller Wunder und Abgründe. Magie und Nüchternheit. Vermehrung, Anpassung, Entwicklung. Zerfall.

Ich bin mittlerweile dankbar für so vieles.

Ich glaube an das Leben. Ich vertraue einfach darauf, dass alles seine Richtigkeit hat. Ohne Gott. Und dass, es egal ist, was die Menschheit anstellt, das Leben wird sich durchsetzen. Zur Not auch ohne uns.

Und ist es wichtig, ob es ein Danach gibt? Ändert das irgendwas?

Der Gedanke an die Unendlichkeit des Universums macht mich demütig. Es beruhigt mich. Im Moment bin ich Teil vom ganz großen Kino. Aber gemessen an der Erdgeschichte ist mein Anteil einfach lachhaft klein und kurz.

Und trotzdem glaube ich, anstatt zu resignieren: Wenn viele kleine Leute, an vielen kleinen Orten viele kleine Dinge tun, können sie das Gesicht der Welt verändern. Aufgeben ist keine Option. Es gibt immer einen Weg, Schritte zu gehen und Dinge zu tun.

Das kann ich. Viele kleine Dinge tun. Freundliche, authentische, souveräne kleine Dinge. Nicht immer. Das schaffe ich nicht. Wir sind hier, um zu lernen und um besser zu werden.

Das ist Evolution, das ist Natur, das ist Leben.

Wie gesagt, das kann ich.

2 Kommentare zu „2021 | Glaube in Zeiten der Unsicherheit“

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