2020 I November ist vorbei

Ich hab es nicht geschafft. Mal wieder nicht.

Bin nicht am Grab meiner Eltern gewesen, zu Heidis Todestag, am 14. November, hatte es mir fest vorgenommen.

Und es ist auch nicht so, dass ich mich wegen meiner Kinder, wegen Corona, wegen der Arbeit oder des neuen Haustiers nicht hätte freimachen können.

Nicht, nicht.

Ich denke an meine Oma. Mutter mütterlicherseits, die mich am Telefon mit „ach, dass du dich auch mal wieder meldest!“ oder einem ähnlich reizenden Satz begrüßte. Nach 600 km Fahrt die Haustür mit den Worten öffnete: „Was? Du bleibst nur eine Woche?“ Diese Enttäuschung.

Sie hatte damals – nach dem Tod ihrer Tochter und ihres Schwiegersohnes – beschlossen, dass sie zu alt sei, um die pubertierenden, ohnehin fast erwachsenen Enkel zu sich zu nehmen. Zu alt, um ihr Haus im Norden aufzugeben, zu alt um zwei Teenagern den Haushalt zu schmeißen. Sie wollte selbst aufgefangen werden, getröstet und umsorgt. Das weiß ich heute. Ihre Vorwürfe in Erinnerung. Es tut mir so leid, dass wir nichts miteinander anzufangen wußten. Ich war jung, konnte nichts annehmen, hatte nichts zu geben.

Gut. Vorwürfe muss ich mir am Grab nicht anhören. Nicht nötig. Auch die trage ich mit mir herum. Ins Hirn graviert, wie in ein hübsches Schmuckstück.

Du hast es doch angekündigt! Sogar öffentlich! Im November wolltest du uns besuchen kommen!

Nicht mal eine vernünftige Ausrede hab ich. Geschweige denn einen triftigen Grund.

Ich hatte einfach keine Muße. Ein furchtbar altbackener Begriff, der genau beschreibt, was mir fehlt. Mir. 

Extra-Tipp gefällig?

Ich denke auch, dass sich manch einer nicht mit dem Tod auseinandersetzen will. Ist das eine neue, menschliche Unart? Bin sicher: Das war schon immer so. Ich wollte es ja auch nicht. Mich mit dem Ende auseinandersetzen. Wer will das schon? Es ist ein insgesamt durch und durch unfreiwilliger Akt. Das Leben zwingt uns den Tod auf. Gehört zwar dazu, ganz klar, aber so unkontrollierbar. Irgendwie unangenehm. Wie ein Erdbeben. Ein Tsunami, Vulkanausbruch, Tornado. Eine Pandemie? Eine Naturgewalt eben.

Leben ist bekanntlich tödlich.

Lasse ich das Grab meiner Eltern verkommen?

Es liegt nicht an der Entfernung.

Und an der Verpflichtung?

Nein, auch nicht.

Marmorplatte drauf, bronzener Halter für Kerze oder Blumen – falls meine Eltern Besuch bekommen. Fertig! Wenn ich mich nicht kümmern wollte, hätte ich einen Weg gefunden.

Ich will!

Nur: Ich muss Muße haben. Muße, die über Gelegenheit und Möglichkeit hinausgeht.

Sie funktioniert nicht nach Vorgaben der Friedhofsordnung, noch unterwirft sie sich gesellschaftlichen Konventionen. Ja, nicht mal meinen eigenen künstlerischen Vorhaben! 

Zur Spaßgesellschaft zähle ich mich nicht mehr. Klingt nach meiner späten Jugend. Da war Spaß tatsächlich Ablenkung von Trauer. Und Einsamkeit. Orientierungslosigkeit. Sinnlosigkeit. Und häufig einfach nur – Spaß.

Ich muss meiner Oma zugute halten, dass ich mich damals auch nicht zu mir genommen hätte. Diese zornige, verlogene Kackbratze.

Ich habe das Grab meiner Eltern immer mal wieder verkommen lassen. Ist so. Ich war damit beschäftigt einen Schritt nach dem anderen zu machen. Bis zum Friedhof hat es oft nicht gereicht. Und nach endlos mühsamen Tälern und Bergen bin ich hier im Jetzt angekommen. Von hier aus kann ich die zornige Kackbratze von damals noch sehen. Und alle Schritte, die bis hierher geführt haben. Ich winke ihr zu. Und sie winkt sogar zurück! Dann zeigt sie mir den Stinkefinger. Ich kann sie verstehen.

Und das muss reichen. Das tut es. Im Jetzt.

Beim Friedhofsgärtnern geht es doch genau darum: welche Pflanzen eingebuddelt werden und wie sauber das Grabmal aussieht. Die Zeit, die man auf dem Friedhof verbringt oder verbringen lässt, wird gleichgesetzt mit der Verbundenheit zu den Verstorbenen.

Aus den Augen aus dem Sinn, dass ich nicht lache! Meine Eltern haben nach ihrem Tod unfassbar viel Raum eingenommen. Zusätzliche Grabpflege hätte an Überforderung gegrenzt. Und hätte ich all meine Tränen, während der Verarbeitung aufgesammelt, auf ihrer Grabstätte besser einen Teich angelegt. 

Meine Mutter flüstert aus dem Jenseits, dass sie einen Teich für eine bessere Idee gehalten hätte, als gar nicht aufzutauchen. Ich weiß, sie meint das ironisch. Und erfreut sich außerdem an ihrem eigenen Wortwitz. Teich und tauchen. Chapeau!

Statt zur Gießkanne habe ich heute zum Telefon gegriffen. Die Verbindung zu meinen Eltern sind Menschen, die durch ihren Verlust große Traurigkeit verspürt haben. In den Gesprächen, Erinnerungen und Gedanken versteckt sich die Nähe.

Dafür muss ich nicht mal auf den Friedhof fahren. Das geht bequem von zuhause aus.

Und erst wenn keiner mehr über sie spricht, werden sie verblassen und vergessen werden.

Das Grab wird viel früher verschwunden sein.

Vielleicht überleben sie im Internet.

4 Kommentare zu „2020 I November ist vorbei“

  1. wie ich es finde, ob schön, ob gut oder Klasse!
    mir fällts schwer worte zu fassen die passe

    danken mag ich Dir für die Berührung deiner Worte in meinem Herzen
    und die Verbundenheit im Fühlen von Freude und Schmerzen

    ist auch bei Dir und mir und jedem anders gelegen
    ist es mir als „Schützenhilfe“ für die Seel‘ ein Segen

  2. Ich bin heute durch meinen Heimatort gefahren und habe kurz überlegt, ob ich am Friedhof anhalte, am Grab meiner Mutter….aber nein, ich habe mich dagegen entschieden. Dieser Ort gibt mir einfach nichts. Für mich ist sie viel mehr in der Natur….ich habe auch an ihrem Todestag nichts an ihr Grab gebracht, sondern einen selbst gepflückten Strauß an einen Baum gelegt….da war sie und nicht auf dem Friedhof…

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