2021 I Das Ende im Beginn

Heute. Ohne Playlist.

Ein silberner Golf hängt an der Stoßstange des Vorderwagens. Ohne Lichthupe, aber offensichtlich in größter Eile und Verzweiflung. Oder Wut. So genau kann ich das von hier nicht erkennen.

Das Paar nimmt gemeinsam eine Ausfahrt, links, Stoßstange an Stoßstange an den LKWs vorbei.

Ich fahre eine andere Strecke.

Es gibt seit Jahren eine neue Umgehungsstraße. Bisher bin ich gern den bekannten Weg gefahren und war fast verärgert über die vielen Veränderungen, neue Auf- und Abfahrten und meine damit verbundene Orientierungslosigkeit.

Diesmal bleibe ich auf der Umgehung. Ich kenn mich doch aus, bin hier aufgewachsen. Navi bleibt aus. Irgendwann kommt eine Ausfahrt, glaube ich. Panik! Bin ich doch verkehrt? Ja? Nein? Was sagt das Schild?

Puh. Ich weiß wo ich bin. Und zum Glück hab ich Zeit. Meine Schnellstraße war gepaart mit meinem Instinkt – ein Umweg.

Und ein Erkenntnisgewinn. Krieg ich trotzdem hin. Ich bin hier aufgewachsen.

Am Ortseingang prangte beim letzten Besuch ein „Merkel muss weg“-Schriftzug an der Mauer. Die Antifa hat in der Zwischenzeit andere Sorgen.

Was wohl die Menschen im Dorf von der Kommentare-Klage-Mauer halten?

Bevor es auf dem Friedhof ans Werk geht, erstmal eine Runde zu vertrauten Orten, die sich weniger verändert haben.

Die Luft ist toll. Voller Gerüche. Unsere Eltern sind bestimmt damals wegen der guten Luft auf‘s Land gezogen, aus Vernunft. Wohl kaum, weil sie auf diesem Hügel standen und um die Wette geschnuppert haben. Nicht mal vertraut riecht es hier. Richtig aromatisch im Vergleich mit Zuhause.

Die Natur ringsherum war immer gut zu mir.

Auf dem Hang äsen noch um halb 10 mehrere Rehe auf dem Feld, fluchtbereit am Waldrand und trotzdem unbeeindruckt von der nahen, menschlichen Siedlung.

Was mache ich hier? Zeit schinden oder versuchen, mich mit dem Ort zu versöhnen? Versucht der Ort das auch?

Ein Grünspecht begleitet mich eine Weile meckernd.

Der Fischteich ist noch da, der Angelverein drei Ortschaften weiter, weist mit 3 Schildern auf sein Privatrecht hin. Den Hang hinauf geht mir fast die Puste aus.

Ein Feldhase hoppelt träge davon. 

Schon fast suspekt, diese Idylle.

Das braucht wohl mehrere Besuche, die schönen Erinnerungen aufzusuchen und den Eindruck zu festigen, dass nicht plötzlich jemand auftaucht und mich in die Vergangenheit zurück zerrt.

Warum sollte ich mich schutzlos und verwundbar fühlen, wenn ringsherum alles so friedlich wirkt?

So sicher. Nicht mehr mein Zuhause.

Zurück auf dem Friedhof werkele ich eine Weile herum. Bin unzufrieden. Ich arbeite an meinem Perfektionismus mit einfach machen, weniger grübeln. Das Grübeln ändert nichts daran, dass sich sowieso alles ständig verändert.

Fehler machen.

Können.

Das ist die Aufgabe.

Unter den Beeren des Sonnenunterganges sind winzige Sprösslinge im Sand gewachsen. Kleine Überlebenskünstler. Ob sie sich weiterhin behaupten werden?

Die neue Umgebung ist eine Art Grabtuch. Vielschichtig. Durchscheinend. 

Es ist unscheinbar. Und doch leuchtet der Untergrund, mehrerer Schichten Stoff, wie kalter Stein. 

Jeder Stern steht für ein Familienmitglied. Die Länge der schwarzen Bindfäden entspricht den Lebensjahren in Zentimetern.

Ich weiß so wenig über diese Fäden. Die Orte und Begegnungen, Gedanken und Gefühle.

Ich lass mich grade zu einer Danksagung hinreißen, als mich eine schrille Stimme aufschreckt. Sie gilt einer weiteren Besucherin. Ordentlich Betrieb für einen Dienstag Vormittag. Austausch über Befinden, Gärtnereien und die Frostresistenz von Stiefmütterchen.

Friedhof ist auf dem Dorf eine Begegnungsstätte. Ich bin hier aufgewachsen und fühle mich gleich wieder fremd. Wer ist das? Muss ich die noch kennen? Kennen sie mich?

Finde nicht zurück zu dem Gefühl von eben. Beende halbherzig meinen Dank und packe meine Sachen. Schade. War grad so ein Moment. Den hätte ich gern ausgekostet. Gedanken, was man so als pietätlos auffassen kann, tauchen auf. Ein Kompasslattich winkt mir zu. Ja, ja, ich weiß: eigene Nase, eigene Tür. Man wird ja wohl noch seine eigenen Gedanken denken dürfen!

Bevor ich gehe, werde ich gefragt.

Aus dem Gässchen?

Ja.

Nachdenkliches Gesicht.

Das Grab könne ich auch vorzeitig räumen lassen.

Ich weiß. Ich würde auf meine Art Abschied nehmen.

Aber wäre möglich, die machen da keine Probleme.

Kein Problem, ich wohne nicht allzu weit, danke. Ist halt lange her und jemand hat sich über den Zustand des Grabes beschwert. Jetzt bin ich hier.

Sie würde niemanden verpetzen. Auch nicht die Leute da vorn, die keine Masken tragen.

Sie trägt eine.

Ich keine.

Fällt mir eben erst auf. Ich war so in Gedanken. Hatte nicht wirklich mit einem Gespräch gerechnet. Corona hat hier auf dem Dorf bestimmt seine ganz eigene Dynamik.

Wir verabschieden uns. Bis zum nächsten Mal.

Es kostet mich Überwindung. Hierher zu kommen.

Ich fühle mich oft, wie der Typ aus der aktuellen Snickers Werbung: Tapse in Unterhosen raus auf die Terrasse, frage ohne hinzugucken, drehe mich um und sehe, in mehrere starrende Augenpaare, verlegenes Blinzeln, sich schütteln: Nein, also, nein.

Ich arbeite an meiner Unsicherheit. Fahre ohne Navi, versuche andere Meinungen auszuhalten, mache meine Projekte, bevor die Grübelei sie im Keim erstickt.

Es ist gut, wie es ist.

Am Ende gewöhne ich mich noch an dieses Ritual.

Und dann wird es auch schon wieder vorbei sein.

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